"Mobile"
von Samuel J. Fleiner
Ballett für Rollstühle und Gabelstapler
nach einer Maschinentanzmusik
Eine Stadtstruktur, die Leben,
Wohnen, Arbeiten trennt und die Zwangsmobilität zur Folge hat, ist
ein amerikanisches Konzept, das der arbeitsteiligen Industrie entnommen
wurde und das mit europäischer Stadtgeschichte und seinen mittelalterlichen
Stadtkernen wenig zu tun hat. Trotzdem wurde dieses Konzept bestimmend
in der Stadtplanung der Nachkriegszeit. Beim Ballett für Rollstühle
und Gabelstapler von Samuel J. Fleiner geht es deshalb nicht nur um Massenproduktion,
sondern auch um Prozesse eingespielter Abhängigkeiten und Absurditäten
einer zwangsmobilen Gesellschaft. Die Tänzer und Akteure sind Subjekte
und Objekte "eingefahrener" Verhaltensmuster: Sie sind Teile unverständlicher
Maschinen und Räume, sind individuell beglückte Mobilitätssubjekte
sowie rastlos und ratlos im Stau Stehende. Sie sind Fahrzeug und Maschine
in Personalunion, gleichsam gefesselt und befreit und damit eine Metapher
für einen kollektiven Seinszustand mit dem Trend zum Zweitwagen. Getanzt
wurde nach einer Maschinen-Tanz-Musik (MaTaMu) vor einer Video-Daten Kulisse.
Es handelte sich dabei um reale und digital bearbeitete Geräusche
aus der Verkehrs-, Freizeit- und Arbeitswelt, die zu einer Art "Musik Konkret"
mutierten. Die Video-Daten-Kulisse (ViDaKu) wurde von Fleiner aus lndustriefilmfragmenten
zusammengesetzt und bildet eine gestalterische Einheit mit der Geräuschmusik
und der Choreographie. Einzelne Figuren lauten beispielsweise "Entladung",
"Werkstück", "Just in Time", "Fließarbeit" oder "Distribution".
Die Aufführung fand am 24.9.95 im Rheinland-Pfälzer und Ludwigshafener
Kultursommer statt und richtete sich an ein allgemeines Publikum. Integration
war bei dem Projekt ein gewollter Begleiteffekt. Im Zentrum standen aber
die tänzerischen Fähigkeiten der Rollstuhlfahrer. Die Gabelstapler
kompensierten in der Choreographie das vertikale Defizit. Das Publikum
blickte von oben auf die Tanzfläche.
Verwendet wurden sowohl für
die Produktion der Musik Konkret als auch für die Produktion der Video-Daten-Kulisse
digitale computergestützte Schnittsysteme. Die Vidaku wurde mit einem
Videobeamer auf eine 70 qm große Leinwand projiziert, die Matamu
kam vom vorgefertigten Band und wurde mit einer Musikanlage mit einer Leistung
von ca. 3000 Watt eingespielt. Es tanzten sechs Rollstühle, die Tänzer
waren zwischen 18 und 25 Jahre alt, und fünf Stapler. Für Bühnentechnik
waren zusätzlich sechs Personen und für die Beleuchtung 4 Personen
im Einsatz. Das Team umfaßte einschließlich Fahrern und Catering
25 Personen, die teilweise ehrenamtlich im Einsatz waren. Nach der Antragsstellung
und Partnersuche wurde zunächst der Ablauf geplant und eine Choreografie
entwickelt. Aus Kostengründen entstand zuerst die Vidaku als Stummfilm
aus Archivmaterial, das der Südwestfunk bereitstellte und dann erst
die Maschinentanzmusik. Die Choreografie wurde von allen Beteiligten aktiv
weiterentwickelt und ausgefeilt. Großen Anteil am Gelingen der Performance
hatte Jule Graetke.
Das Projekt wurde von der Presse sehr gut
aufgenommen, war außergewöhnlich gut und auch überregional
angekündigt, konnte aber trotzdem nur wenig Publikum nach Ludwigshafen
locken. Diejenigen, die gekommen waren, konnten aber begeistert werden.
Aus dem Jahresbericht der Stiftung Rheinland-Pfalz
für Kultur 1995
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